Als Fadu Chen sechs Monate zählte, war die Welt für ihre Familie noch in Ordnung. Das Jiang-Zemin-Regime hatte damals zwar schon begonnen, die Falun Gong-Bewegung zu unterdrücken, doch hatte die Repression diese Familie noch nicht erreicht. Heute ist die kleine Fadu über zwei Jahre alt, doch ihr Vater fehlt. Statt dessen hält Mutter Zhizhen Dai eine Urne in der Hand – und sieht stark gealtert aus. Im Juli 2001 hatte sie die Nachricht bekommen, dass ihr Mann Chengyong Chen aus der Stadt Guangzhou gestorben war. „Als seine Schwester die Leiche sah, hatte diese schon angefangen, zu verwesen. Die Polizei hatte offensichtlich erst einige Zeit nach seinem Tod die Familienangehörigen verständigt“, erklärte Zhizhen Dai bei einer Gedenkfeier für ihren Mann in Sydney.
Frau Dai ist australische Staatsbürgerin und konnte deswegen vor dem Tod ihres Mannes China verlassen. Die Schwester von Chengyong Chen, die die Leiche identifiziert hatte, wurde zu zwei Jahren Arbeitslager verurteilt, weil sie ebenfalls Falun Gong praktizierte. Sein Vater konnte diese Schicksalsschläge nicht aushalten und starb an einem Herzinfarkt. Innerhalb von drei Monaten wurde eine Familie zerstört.
Falun Gong ist eine traditionelle chinesische Meditationsbewegung, die fünf langsame körperliche Übungen beinhaltet und deren Grundprinzipien Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht sind. In China gibt es viele solcher Übungsmethoden, die morgens und abends in Parks im ganzen Land praktiziert werden. Man hat ihnen den Oberbegriff Chi Gong gegeben.
Li Hongzhi trat 1992 mit Falun Gong an die Öffentlichkeit. Bald schon bemerkte die chinesische Regierung die guten Auswirkungen dieser Meditationspraxis auf die Gesundheit der Menschen, unterstützte sie und verlieh ihr Auszeichnungen. Vor allem durch Mundpropaganda wurde Falun Gong schnell verbreitet. Ende 1998 praktizierten bereits 70 Millionen ChinesInnen aus allen Bevölkerungsschichten diese Methode, darunter auch Polizisten und Kader der Kommunistischen Partei.
Diese zeigte sich allmählich wegen der raschen Verbreitung dieser Bewegung beunruhigt. In manchen Gebieten begann die KP schon 1996, Falun Gong-Bücher zu beschlagnahmen und Praktizierende zu verhören. In den vom Staat streng kontrollierten Medien tauchten zunehmend negative Artikel über Falun Gong auf. Diese Entwicklung und die Festnahme von über 40 Falun Gong-Praktizierenden im April 1999 in Tianjin, einer Nachbarstadt von Beijing, führten dazu, dass an die 10.000 Menschen zum Petitionsbüro (eine gesetzliche Einrichtung zum Einbringen von Beschwerden) in die Hauptstadt fuhren, um ihren Protest gegen diese Vorfälle einzubringen. Danach zogen die Menschen friedlich wieder ab.
In den nächsten drei Monaten schien alles wieder in Ordnung zu sein – doch unter der Oberfläche brodelte es weiter. In der Nacht zum 20. Juli 1999 begann dann eine landesweite Welle von Festnahmen von Falun Gong-SympathisantInnen, zwei Tage später wurde die Bewegung offiziell verboten. Sechs Wochen vorher bereits hatte das Zentralkomitee eine eigene „Führungsgruppe“ zur Verfolgung von Falun Gong gegründet, das berüchtigte „Büro 610“.
Parallel dazu wurde im ganzen Land eine Hetzkampagne inszeniert. Falun Gong-Bücher und Videos wurden öffentlich verbrannt, und in den Medien tauchten jeden Tag noch mehr Menschen auf, die Falun Gong kritisierten. Die Auszeichnungen und die Lobbriefe seitens der chinesischen Behörden waren vergessen – sie sind noch im Internet nachzulesen. Doch die „sensiblen“ Webseiten sind in China selbst blockiert; „falsche Benutzung“ des Internets kann bis zu elf Jahren Freiheitsstrafe einbringen.
Die KP Chinas hat eine langjährige Erfahrung mit der Manipulation von Informationen. Etwa in Zusammenhang mit dem Massaker am Tiananmen-Platz 1989. Bis heute zweifeln immer noch viele ChinesInnen daran, dass dort DemonstrantInnen erschossen wurden. In den Medien wurde und wird verbreitet, „Terroristen“ hätten „Volkshelden“, also die Soldaten, ermordet, doch schließlich besiegten letztere die „Terroristen“ …
Die Manipulation durch die Medien hat auch bei der Verfolgung von Falun Gong gut funktioniert, jedoch nur am Anfang. Staatschef Jiang Zemin behauptete im Juli 1999, zu Beginn der großen Repressionswelle, Falun Gong binnen drei Monaten ausmerzen zu können. Zum 1. Oktober desselben Jahres, dem 50. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China, wollte er mit dem Lächeln des Siegers auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ erscheinen und die Ovationen der Menschen entgegennehmen.
Doch aus dem Triumph wurde nichts. Die Feier wurde zwar wie geplant abgehalten, doch im Fernsehen sah man nur das ernste Gesicht und die schweren Schritte des Staatsoberhauptes. Die Falun Gong-Praktizierenden waren noch nicht verschwunden, wie angekündigt. Immer mehr von ihnen gingen zum Petitionsbüro und, als dieses in ein Polizeikommissariat umgewandelt wurde, zum Tiananmen-Platz. Weder die Androhung des Verlusts von Arbeits- oder Studienplatz, von Arbeitslager oder Gefängnis und Folter konnten ihre friedlichen Proteste ersticken. So etwas hatte Jiang Zemin noch nie erlebt.
Eine häufig gestellte Frage: Warum unterdrückt die KP Chinas Falun Gong in diesem Ausmaß? Wegen der großen Anzahl von Falun Gong-AnhängerInnen sieht sie diese offenbar als eine Bedrohung für ihre Macht, obwohl die Meditationsbewegung nie politische Zielsetzungen hatte.
Das Jiang-Zemin-Regime warf Li Hongzhi, dem Gründer von Falun Gong, vor, sich durch den Verkauf von Büchern und Videokassetten bereichert zu haben. Als Begründung für das Verbot wurde weiters behauptet, durch das Praktizieren von Falun Gong seien 1400 Menschen ums Leben gekommen oder wahnsinnig geworden oder hätten sich selbst oder Familienangehörige getötet. Li Hongzhi wird auch beschuldigt, Menschen geistig zu beherrschen und Personenkult zu betreiben. Im Einführungsbuch „Falun Gong, Der Weg zur Vollendung“ heißt es hingegen: „Die Übungsleiter geben die Übungen kostenlos weiter. Es ist streng untersagt, dafür Geld oder Geschenke anzunehmen.“
Vor dem am 8. November beginnenden 16. Parteitag der KP Chinas gibt es verschiedene Vermutungen über einen Machtkampf innerhalb der Partei. Ob auch Falun Gong ein Thema der Diskussionen darstellt, ist unklar. Eine Tatsache ist, dass unter den sieben ständigen Mitgliedern des Politbüros nur Jiang Zemin sehr aktiv in der Kampagne gegen Falun Gong engagiert ist. Die anderen sechs haben bisher vermieden, sich diesbezüglich zu äußern. So ist es sehr wahrscheinlich, dass sich die offizielle Politik der Partei gegen Falun Gong ändern wird, wenn Jiang Zemin seine Machtpositionen verliert.
In mehr als 60 Ländern erklingt heute die Übungsmusik von Falun Gong. Aus zahlreichen Ländern der ganzen Welt kommen Auszeichnungen und Nominierungen für den Friedensnobelpreis. Und aus China selbst dringen immer mehr Nachrichten über Misshandlungen und Todesfälle. Amnesty International dokumentierte über 200 solcher Fälle, Falun Gong berichtet auf ihren Webseiten von über 450 in der Haft zu Tode gekommenen Menschen. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. AI zählt alle erdenklichen Foltermethoden auf: zehn Tage Schlafentzug, einen Monat an das Bett fesseln oder in einen Stahlkäfig sperren, Schläge mit Elektrostab oder Gummiband, systematische Gehirnwäsche …
Die Repression beschränkt sich jetzt nicht nur auf Falun Gong. In den letzten drei Jahren wurden über zehn Chi Gong-Schulen verboten. In Parks zu meditieren oder auf der Straße über Falun Gong zu sprechen, ist heute in China ein Verbrechen.
Der lange Arm Chinas reicht auch über die Landesgrenzen hinaus. Im April 2002 mussten beim Staatsbesuch von Jiang Zemin in Deutschland alle ChinesInnen aus dem Hotel, in dem er wohnte, verschwinden. Und während eines Staatsbesuches von Jiang Zemin in Island im vergangenen Juni wurde Falun Gong-Praktizierenden von mehreren internationalen Flughäfen aus die Einreise nach Island verweigert.